Der größte Online-Händler der Welt fürchtet sich vor gewerkschaftlicher Selbstorganisation. Interne E-Mails zeigen, wie Amazon die Zusammenkünfte seiner Angestellten detailliert dokumentiert. Auch vor dem Einfluss von Umweltaktivist:innen sorgt sich der Konzern.
von Marie Bröckling, zuerst erschienen bei netzpolitik.org
Über die Überwachungstaktiken von Amazon gegenüber seinen Beschäftigten sind neue Details bekannt geworden. Der globale Versandhändler ist dafür bekannt, eine feindliche Einstellung gegenüber Gewerkschaften zu pflegen und Selbstorganisation zu unterbinden.
Die Journalistin Lauren Kaori Gurley hat diese Woche interne E-Mails und Dokumente von Amazon veröffentlicht. Aus denen geht hervor, dass Zusammenkünfte von Arbeiter:innen detailliert dokumentiert und innerhalb des Konzerns ausgetauscht werden. Gurley nennt dabei auch einen Fall aus dem Amazon-Logistikzentrum in Leipzig.
339 Streikende in Leipzig
Seit sieben Jahren kämpft die Gewerkschaft Verdi dafür, dass die über 12.000 Amazon-Arbeiter:innen in Deutschland einen Tarifvertrag bekommen und nach dem bundesweiten Tarif für den Versandhandel bezahlt werden. Amazon weigert sich und behauptet auch ohne Tarifvertrag ein fairer Arbeitgeber zu sein. Im Februar diesen Jahres hat Verdi die Beschäftigten an fünf Standorten, darunter Leipzig, erneut zum Streik aufgerufen.
Journalistin Gurley zitiert aus internen E-Mails des „Global Security Operations Center“, dem inneren Überwachungsapparats von Amazon. Dort heißt es, dass 339 Beschäftigte an dem Streik in Leipzig teilgenommen hätten, darunter jedoch keine Führungskräfte. Weiter heißt es, das seien „46,37%“ der Personen, die Amazon für den Streik erwartet hatte.
Die E-Mails zeigen, wie der Konzern die Selbstorganisation seiner Beschäftigten bis hin zur Identifizierung von Einzelpersonen überwacht. Insbesondere Führungskräfte scheinen demnach unter gezielter Beobachtung zu stehen. Amazon streitet das ab. Auf Nachfrage von netzpolitik.org schreibt ein Sprecher, dass es „nie eine Beobachtung der Aktivitäten durch operative Mitarbeiter vor Ort“ gab.
Außerdem wird deutlich, wie detailliert die interne Überwachungseinheit des Konzerns Streiks dokumentiert und Prognosen erstellt, die anschließend korrigiert werden. Erst kürzlich gab es einen Aufschrei, als Amazon zwei Stellenanzeigen zur heimlichen Überwachung der Amazon-Angestellten ausgeschrieben hatte, um „gewerkschaftliche Bedrohungen“ abzuwenden. Gesucht wurden Personen mit Erfahrung im Geheimdienstwesen beim Militär oder in der Strafverfolgung. Der Versandhändler bezeichnete die Ausschreibung hinterher als Fehler.
Social-Media-Monitoring
Auch in den sozialen Medien überwacht Amazon seine Angestellten. Bereits im September berichtete Gurley über Beweise, dass Amazon eine Software zum systematischen Ausspähen der privaten Facebook-Gruppen, Twitter und Subreddits von Amazon-Flex-Fahrerinnen weltweit einsetzt. Ziel sei es, frühzeitig zu erkennen, wer gewerkschaftliche Organisation oder Streiks plant. Amazon bestätigte nach Veröffentlichung den Einsatz der Software.
Ein nun bekannt gewordener interner Bericht aus dem Jahr 2019 zeigt zudem, dass Amazon sich vor Protesten durch Umweltaktivist:innen in Deutschland fürchtet. Die Social-Media-Aktivitäten von Greenpeace, Extinction Rebellion und Fridays for Future werden demnach genau beobachtet. In dem Bericht wird laut Gurley beispielsweise ein Greenpeace-Video beschrieben und vermerkt, dass es bereits das „dritte Video über Amazon in zwei Wochen“ sei und ein Boykott „nicht ausgeschlossen“ werde könne.
Ein Amazon-Sprecher schreibt an netzpolitik.org, dass es falsch wäre „diese Aktivitäten zu skandalisieren oder zu behaupten sie wären ungewöhnlich“.
Unabhängig von den Überwachungsvorwürfen rief die Gewerkschaft ver.di im Streit um einen neuen Tarifvertrag am heutigen Donnerstag zu Streiks in sieben deutschen Versandzentren auf, darunter auch in Leipzig. Damit möchten die Gewerkschafter*innen erreichen, dass Amazon die Flächentarifverträge des Einzel- und Versandhandels anerkennt und sich zu besseren Arbeitsbedingungen vertraglich verpflichtet.
Europäische Kontrolle
Der größte Versandhändler der Welt schafft es mit seinen Überwachungstaktiken die gewerkschaftliche Selbstorganisierung seiner Beschäftigten erfolgreich zu verhindern. In den USA gibt es bis heute keine einzige Gewerkschaft von Amazon-Angestellten. Hierzulande steht es etwas besser um die Arbeitsrechte, aber auch hier gibt es weiterhin keine Tarifverträge.
Die nun veröffentlichten internen Dokumente sind nur ein weiteres Puzzleteil in den Enthüllungen über Arbeitnehmer-Überwachung bei Amazon. Gewerkschaftsvertreter:innen aus 15 Ländern forderten deshalb bereits im Oktober die Europäische Kommission auf zu prüfen, ob der Konzern gegen europäisches Recht verstößt.
Update vom 26. November 2020: Die Angaben zu Streiks in sieben deutschen Versandzentren wurden nach Veröffentlichung des Artikels hinzugefügt.
Marie schreibt seit 2018 für netzpolitik.org. Sie ist unter marie.broeckling(at)netzpolitik.org (PGP-Key) erreichbar und als broeckling_ auf Twitter.